Wenn das Kind nicht spricht: Wie Pädagogen selektiven Mutismus erkennen und damit umgehen

14.01.2019 | JS – Online-Redaktion, Forum Verlag Herkert GmbH

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Wenn ein Kind gegenüber fremden Personen oder im Kindergarten plötzlich verstummt, obwohl es Zuhause ein redseliges Kind ist, kann selektiver Mutismus vorliegen. Diese Entwicklungsstörung wird sogar von Experten nicht selten verkannt. Wie können also Pädagogen Mutismus erkennen und das Kind unterstützen?

Selektiver Mutismus: Was ist das?

Selektiver Mutismus ist eine Art von Mutismus und beschreibt das Phänomen, dass Kinder, die anatomisch in der Lage sind zu sprechen, in einer ihnen ungewohnten Umgebung oder wenn fremde Personen hinzutreten, verstummen und sich aus ihrem direkten Umfeld regelrecht „ausklinken“. Daher sind es oft gar nicht die Eltern, die die ersten Anzeichen von selektivem Mutismus erkennen, sondern die Pädagogen in Kita und Schule.  

Beim selektiven Mutismus liegen weder geistige noch körperliche Einschränkungen vor. Wird selektiver Mutismus jedoch nicht erkannt und nicht behandelt, kann das massive Langzeitfolgen für das Kind haben: Beeinträchtigung in seiner schulischen Entwicklung sowie Behinderungen der beruflichen und sozial-emotionalen Teilhabe.   

Einer Studie aus dem Jahr 2001 zufolge, leiden etwa 7 von 1000 Kindern an Mutismus und damit doppelt so viele, wie an Autismus. Häufig tritt selektiver Mutismus bei Kindern mit Migrationshintergrund auf. In diesen Fällen ist es noch schwieriger festzustellen, ob das Kind Angst vor der fremden Sprache hat oder selektiv mutistisch ist. 

Was sind die Symptome von selektivem Mutismus?

Das Hauptmerkmal des Mutismus ist das Schweigen an sich. Fälschlicherweise werden selektiv mutistische Kinder oftmals als trotzig oder aufsässig eingestuft. Das ist falsch. Diese Kinder leiden an einer Angststörung. Die meisten wollen sprechen, doch ihr Angstgefühl ist größer als dieser Wunsch. Ein mehr oder minder eindeutiges Anzeichen für selektiven Mutismus liegt in der Veränderung des Verhaltens des Kindes:

Während es in gewohnter Umgebung offen ist, spielt, lacht und tobt, schlägt sein Verhalten plötzlich um, sobald sich etwas an der Situation ändert oder andere Personen hinzukommen: Das Kind wird still und stumm.  

Dadurch, dass sich mutistische Kinder regelrecht unsichtbar machen wollen (Mutismus hat auch viel mit fehlendem Selbstbewusstsein zu tun), fallen sie in Kita und Schule weit weniger auf, als hyperaktive oder lernbehinderte Kinder, was eine Diagnose in vielen Fällen verzögert.  

In der Praxis kann sich selektiver Mutismus z. B. folgendermaßen äußern: 

  • Das Kind schweigt, wenn es von Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrkräften angesprochen wird. 
  • Das Kind schweigt in Erzählsituationen. 
  • Das Kind spielt häufig alleine und spricht generell, wenn dann nur sehr wenig mit seinen Mitschülern.  

Ist das Kind nicht einfach nur schüchtern?  

Selektiver Mutismus wird nicht selten mit Schüchternheit verwechselt. Doch wie können Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern unterscheiden, ob ein Kind mutistisch ist oder einfach nur schüchtern auf fremde Personen oder größere Gruppen reagiert? Es kommt darauf an, wie lange das Schweigen anhält, erklärt Julia Reimelt, Vorstandsmitglied und Sprecherin des Vereins Stillleben, gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Eine Eingewöhnung in der Kita kann zwei bis drei Monate dauern, aber wenn das Kind dann immer noch gar nicht spricht, sollte man schon genauer hingucken.“

Ein anderes Merkmal ist, dass Kinder, die einfach nur schüchtern sind, durchaus kommunizieren können, dass sie Angst haben. Ein Kind mit Mutismus erstarrt förmlich und kann sich nicht mehr mitteilen. 

Ursachen für selektiven Mutismus  

Die genauen Ursachen dieser Angststörung sind nicht hinreichend erforscht. Ein Grund, der oft genannt wird, ist die genetische Veranlagung. Das heißt: In einigen Familien treten über Generationen hinweg Ängste, Depressionen oder andere psychische Erkrankungen auf, was das Kind für diese Störung anfälliger macht. 

Darüber hinaus kann die äußere Belastung, also der Besuch des Kindergartens oder die Einschulung Auslöser für Mutismus sein. Nicht selten sind es Kinder mit Migrationshintergrund, die an selektivem Mutismus leiden. Mit dem Hintergrund, dass sie die Sprache nicht beherrschen, sind sie von den neuen Eindrücken häufig so überwältigt, dass sie aufhören zu sprechen. 

Langzeitstudien, die die Entwicklung von ein- und mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen, die unter selektivem Mutismus leiden, vergleichen, fehlen bislang jedoch. 

Trauma ist eher selten Auslöser für selektiven Mutismus 

Ein Schock oder ein Trauma sind selten die Ursache für selektiven Mutismus. Sie sind eher Auslöser des sog. totalen Mutismus, bei dem das Kind generell nicht mehr mit anderen Menschen spricht. 

Ist selektiver Mutismus heilbar? – Hilfestellungen im Alltag 

Wird selektiver Mutismus frühzeitig erkannt und behandelt, können die meisten Kinder später ein normales und erfülltes Leben führen. Deshalb ist eine frühe Diagnose sehr wichtig. Eltern sollten sich also nicht so leicht von Ärzten mit dem Satz „Das verwächst sich schon“ abwimmeln lassen. In aller Regel stellen Ärzte die Diagnose Mutismus erst, wenn die Symptome mehr als einen Monat andauern und immer intensiver werden. 

Es gibt unterschiedliche professionelle Therapie-Ansätze, um Mutismus zu behandeln, doch auch die Erzieherinnen und Erzieher können im Alltag schon etwas tun, um selektiv mutistischen Kindern bei der Bewältigung ihrer Angststörung zu unterstützen. Hier ein paar Beispiele: 

Maßnahme  Wirkung 
Veränderung der Sitzposition im Gruppen- oder Klassenraum Es kann dem Kind helfen, wenn es nicht direkt zwischen anderen Schülern sitzt, sondern eher abseits und auf einem bequemeren Stuhl. 
„Sichere“ Umgebung schaffen  Strahlen Pädagogen gegenüber dem mutistischen Kind menschliche Wärme aus und sind sie entschlossen aber nicht verbissen, könnte das Kind die so geschaffene Umgebung im Gruppen- oder Klassenraum als sicher empfinden und sich etwas öffnen.  
Sprechsituationen erschaffen   Mit Brett- und Kartenspielen sowie Puzzeln erschaffen Pädagogen nonverbale Situationen, die das Kind eventuell zu einem Ausruf (Begeisterung beim Sieg) motivieren, ohne Druck auf das Kind ausgeübt zu haben.  
Gebrauch von Handpuppen / Plüschtieren  Das Spiel mit Stofftieren oder Handpuppen eignet sich deshalb so gut zur Förderung selektiv mutistischer Kinder, weil sich das Kind hinter dem Stofftier/der Puppe erst einmal verstecken kann. Es spricht also nicht das Kind, sondern das Spielzeug. 
Nonverbale Techniken  Auch nonverbale Techniken können das Sprechen fördern. Solche Techniken sind: Deuten mit dem Finger, Nicken, Gestikulieren, Worte tanzen, das Alphabet singen, Buchstaben darstellen oder auch das ins Ohr flüstern sowie das stumme Formen von Worten mit dem Mund.   
Nonverbale Gesten übersehen  Pädagogen können das Kind in Situationen bringen, in denen es mit nonverbalen Gesten nicht mehr weiterkommt. Dafür „übersieht“ der Pädagoge diese Gesten bewusst, um das Kind zum Sprechen zu bringen. Das sollte jedoch immer ein schleichender Prozess sein, das Kind darf nicht das Gefühl entwickeln, dass es ignoriert wird.  

Weitere Maßnahmen, die Erzieherinnen und Erzieher im Gruppen- und Klassenraum sowie Eltern im häuslichen Bereich durchführen können, enthält das Werk „Besondere Kinder“.  

No-Gos bei selektivem Mutismus 

Es gibt aber auch Verhaltensweisen, die Pädagogen sowie Eltern gegenüber dem mutistischen Kind tunlichst vermeiden sollten:  

  1. Das Kind darf niemals dazu überredet werden zu sprechen. Es sollten auch keine Bestrafungen angedroht werden, weil es nicht spricht. 
  2. Keine „Tauschgeschäfte“ nach dem Motto „wenn du sprichst, bekommst du was Süßes“ anbieten.  
  3. Eher kontraproduktiv ist auch das permanente Nachfragen der Eltern, ob es in der Schule gesprochen hat. Wenn das Kind ein Erfolgserlebnis teilen möchte, wird es das von selbst tun. 
  4. Hat das Kind gesprochen, sollten Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern darauf verzichten, das Kind mit Lob zu überschütten oder zu extrem in Freude auszubrechen. Schließlich ist es etwas ganz Normales, dass ein Kind spricht und das sollte dem Kind auch vermittelt werden.  

Das A und O bei selektivem Mutismus ist Geduld und Ausdauer. Denn der Prozess, bis das Kind ein Wort spricht, kann sehr langwierig sein. Die Ausübung von Druck kann die Störung dagegen verstärken.

Um die Ängste und Frustration der Eltern zumindest zu mildern, ist es sehr hilfreich, wenn die Pädagogen in Elterngesprächen den Umgang mit der Entwicklungsstörung offen kommunizieren.


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Quellen: „Besondere Kinder“, Frankfurter Rundschau, Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.

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